von Maryanne Becker
2007, 160 Seiten, Paperback
Beschreibung
ISBN 3833472497
Maryanne Becker, Jahrgang 1952, Sozialwissenschaftlerin und Audiotherapeutin, lebt in Berlin. Der plötzliche, vollständige Hörverlust im Jahr 1997 und die anschließende Versorgung mit Cochlea-Implantaten stellte sie vor neue Herausforderungen. Seither ist sie in der Beratung schwerhöriger und ertaubter Menschen tätig und widmet einen Großteil ihrer Zeit und Energie der ehrenamtlichen Leitung eines Selbsthilfeverbandes.
Beschreibung
Etwa 11.000 Menschen hierzulande tragen Cochlea-Implantate. Die elektronische Innenohrprothese, die vor 50 Jahren noch wie reine Utopie schien, lässt Ertaubte wieder hören. Die meisten können wieder Sprache verstehen, viele sogar telefonieren. Doch bisher weiß man wenig Konkretes darüber, wie die Betroffenen Alltag und Beruf erleben. Das vorliegende Buch schließt diese Lücke. Die Autorin interviewte zehn Menschen im Alter zwischen 18 und 65 Jahren, die offen über ihr Leben mit Cochlea-Implantaten berichten (Methode der narrativen Identität). Die entstandenen Biografien überraschen und ermutigen in mehrfacher Hinsicht. Eine Hörschädigung schränkt das menschliche Grundbedürfnis nach Kommunikation ein. Doch nicht zwingend, so zeigt sich, muss eine solche Behinderung zum Dreh- und Angelpunkt des Lebens werden. Trotz ihrer Ertaubung ist es den hier vorgestellten Menschen gelungen, die Anforderungen an ihre soziale Rolle, an Studium und Beruf zu erfüllen. Allen Interviewten gemeinsam ist: Das Cochlea-Implantat hat ihre Lebensqualität entscheidend verbessert.
Rezension
Zehn Menschen im Alter zwischen 18 und 65 Jahren. Zehn individuelle Schicksale. Zehn mal die Entscheidung, wieder hören zu wollen, die Entscheidung für das Cochlea-Implantat.
Bereits Ende der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts waren Versuche unternommen worden, CIs zu entwickeln, und seit der ersten Implantation in Deutschland Anfang der 90er Jahre wird stetig an der Weiterentwicklung und Optimierung der Technologie und den Operationsmethoden geforscht. In diesem Buch geht es nicht um die Funktionsweise und technischen Details des CI. Hier kommen zehn Menschen zu Wort, die vollen Mutes einen bedeutenden Schritt wagten und die wahrhaftig etwas über das CI und weit darüber hinaus zu sagen haben.
...Norbert, der es anfangs gleich folgendermaßen auf den Punkt bringt: „Ja...jetzt stell Dir mal vor, es würde das CI nicht geben! Du könntest nichts mehr hören! Und darüber können sich viele überhaupt keine Vorstellung mehr machen, was das eigentlich bedeutet. (S. 36).
...Petra, für sie war das CI die Rettung aus der Isolation. Trotzdem erlebt sie auch nach dem Eingriff die positiven Aspekte der Schwerhörigkeit: „Wem ein Sinnesorgan fehlt, der konzentriert sich auf ein anderes, sehr gut funktionierendes Sinnesorgan und dieses transportiert dann auch das emotionale Befinden" (S. 47).
... Rainer, nach Meningitis ertaubt und Opfer mangelnder Kompetenz der Fachärzte, der eine deutliche Verbesserung seiner Lebensqualität erzielte, auch wenn das Vogelgezwitscher ihn nach der Erstanpassung bis zur Schmerzgrenze getrieben hat.
...Nina, für die die ersten Hörgeräte den „totalen Weltuntergang" (S. 62) bedeuteten, die ganz unverblümt Vor- und Nachteile des CIs darstellt.
...Manfred, der 2 Jahre totale Identitätskrise durchlebte und sich dennoch oder gerade deshalb vom Staatsbeamten zum Ökobauern wandelte. Auch er kehrt Risiken und Fehlschläge einer Operation nicht unter den Teppich.
...Birgid, bei der sich trotz Krebserkrankung, Hüftproblemen, Pflegebedürftigkeit der Mutter und Trennung vom Lebenspartner mit Blick auf das CI eine Art Gelassenheit eingestellt hat. „Man lebt wieder!... Das Einzige, was mich an meinem CI wirklich ärgert, dass ich es so spät gekriegt habe. Und dass ich eigentlich Jahre verpasst habe" (S. 93).
...Dann ist da Julian, der mit seinen 18 ½ Jahren viel natürlicher und unbefangen im Umgang mit dem CI erscheint, der mit großer Selbstverständlichkeit Extremsportarten (Downhill-biking, Kampfsport) ausübt und dennoch die Kehrseite der Medaille, d.h. Neid, Missgunst und Mobbing durch Mitschüler, erlebte.
...Laura, deren Weg zum Hörgerät in der ehemaligen DDR über Umwege und „Schmuggelei" aus dem Westen führte. Abenteuerlich! Abgeschoben von der Schule, brachte dann die politische endlich die persönliche Wende.
...Christian, dessen Mitschüler sein erstes Taschenhörgerät „voll geil" fanden (S. 121), nicht wegen des Hörerfolgs, sondern weil es Aufmerksamkeit erregte. Er weiß von Fehlern zu berichten, die auf unvollständige Gesprächsdokumentation im Vorfeld seiner CI-Operation zurückzuführen sind.
...Zu guter Letzt Ingeborg. Sie prägen schwerste Schicksalsschläge bis hin zum Selbstmord ihres Sohnes. Ergreifend, wie sie heute zuversichtlich sagt: „Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie ich hätte weiterleben können, ohne zu hören" (S. 149).
Zum CI-Träger wird man nicht geboren. Es bedarf vielmehr eines Prozesses der Persönlichkeitsfindung, von jedem Betroffenen anders durchlebt und von individueller Dauer, abhängig vom sozialen, beruflichen und therapeutischen Umfeld und auch dem „Quäntchen Glück", das zu manch schicksalshafter Begegnung führt. Hier berichten zehn Menschen, für die sich das CI gelohnt hat. Eine fesselnde Lektüre!
Rezension aus der Hörakustik, Ausgabe April 2008, verfasst von Kyra Schiffke