Gottfried Diller und Anke Martsch
2013, 180 Seiten, kartoniert
Beschreibung
ISBN 978-3-941146-30-3
Beschreibung
»Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.«
- Ludwig Wittgenstein
Spracherwerb gehört zu den zentralen Themen bei der Förderung von Kindern mit einer Hörschädigung. Für hörgeschädigte Kinder mit türkischem Migrationshintergrund stellt sich aufgrund gehäuft auftretender Schwierigkeiten die Aufgabe einer angemessenen Sprachförderung in besonderer Weise.
Die vorliegende Publikation befasst sich mit der Frage, wie Spracherwerbsprozesse von Kindern mit Migrationshintergrund und einer Hörschädigung in der Erst-/Familiensprache und in der Zweitsprache verlaufen können und von welchen sprachlichen und außersprachlichen Faktoren sie abhängig zu sein scheinen. Auf der Basis der Ergebnisse einer Pilotstudie werden Verläufe des Spracherwerbsprozesses hörender und hörgeschädigter deutscher Kinder mit denen hörender und hörgeschädigter Kinder mit türkischem Migrationshintergrund vergleichend dargestellt und interpretierend ausgewertet.
Die Ergebnisse zeigen auf, wie sehr der kindliche Spracherwerb – gerade in den ersten Lebensjahren des Kindes – multifaktoriellen Bedingungen ausgesetzt ist. Insbesondere soziokulturelle Faktoren, unter denen die Kinder aufwachsen, sowie das Bildungsniveau der Eltern beeinflussten die sprachliche Entwicklung und Bildungssozialisation der untersuchten Kinder.
Auf der Grundlage der interpretierten Daten werden mögliche Wege aufgezeigt, wie der Spracherwerb nicht nur von zweisprachig hörgeschädigten Kindern besser unterstützt werden könnte.
Das Buch richtet sich an alle pädagogischen Fachkräfte, die Familien und hörgeschädigte Kinder mit einem Migrationshintergrund begleiten. Aber auch an diejenigen, die sich mit Fragen einer bilingualen Erziehung hörender Kinder mit türkischem Migrationshintergrund beschäftigen.
Vorwort
Die vorliegende Publikation wendet sich einem bisher in der Spracherwerbsforschung völlig vernachlässigten Thema zu, nämlich der Frage, wie der Spracherwerbsprozess von Kindern mit Migrationshintergrund und einer Hörschädigung in der Erst-/Familiensprache und in der Zweitsprache vonstatten geht.
Hierbei kommen die Autoren zu sehr bemerkenswerten Ergebnissen, die Anlass geben sollten, das bisher vorliegende Wissen zum Spracherwerbsprozess von Kindern mit Migrationshintergrund durch weitere empirische Studien zu vertiefen, da im deutschsprachigen Raum Untersuchungen zu diesem Aspekt rar gesät sind, aber die Zahl der Kinder mit Migrationshintergrund, die potenziell zwei-/mehrsprachig aufwachsen, stetig ansteigt.
Ich möchte an dieser Stelle die Untersuchungsergebnisse nicht vorwegnehmen, sondern erlaube mir im Folgenden, auf einige zentrale Befunde zu fokussieren.
Zuallererst zeigt die Studie auf, wie sehr der kindliche Spracherwerb – gerade in den Anfangsjahren – multifaktoriellen Bedingungen ausgesetzt ist. Das bedeutet, bei Kindern mit Migrationshintergrund, stärker als bisher, neben der Analyse biologischer und kognitiver Gründe,
insbesondere auch auf soziokulturelle Faktoren, unter denen die Kinder aufwachsen, zu fokussieren. Damit wird deutlich, wie sehr die niedrige soziale Schichtzugehörigkeit und die Bildungsdefizite der untersuchten türkischstämmigen Eltern sich negativ auf die sprachliche Entwicklung und Bildungssozialisation ihrer Kinder auswirken.
Ein weiteres wichtiges Ergebnis der Untersuchung besteht darin, die Rolle der Erst-/Familiensprache beim Erwerbsprozess der Zweitsprache Deutsch nachzuzeichnen. In Zeiten, in denen in unzähligen Kindergärten und Grundschulen Eltern mit Migrationshintergrund der gut gemeinte Ratschlag erteilt wird, mit ihrem Kind viel und nur Deutsch zu kommunizieren, belegt die Studie, dass dieser Ratschlag für viele Betroffene kontraproduktiv sein kann. Denn bei den im Rahmen der Studie untersuchten Kindern – mit oder ohne Hörschädigung – offenbarte sich die determinierende Rolle der Erstsprache für den kindlichen Zweitspracherwerb oder anders formuliert: Kinder mit einem altersangemessenen Niveau in der Erstsprache – und insbesondere auch diejenigen mit Hörschädigung – erwarben, im Vergleich zu Kindern mit einem niedrigen Niveau in der Erst-/Familiensprache, schneller und differenzierter Strukturen der deutschen Sprache, insbesondere in den Bereichen Verbkomplex, Morphologie sowie Syntax und Satzverständnis. Insofern sollten Eltern mit Migrationshintergrund stärker als bisher darin bestärkt werden, zeitlich intensiver und sprachlich differenzierter mit ihren Kindern zu kommunizieren, um damit den Zweitspracherwerbsprozess positiv zu unterstützen.
Darüber hinaus offenbaren die Untersuchungsergebnisse ein Desiderat, dass nämlich in Deutschland nach wie vor keine Instrumente zur Erhebung des Sprachstandes von zwei-/mehrsprachigen Kindern existieren und die Modifikation von bereits bestehenden Sprachstands-erhebungsverfahren im Hinblick auf diese Zielgruppe eine nicht hinnehmbare Situation darstellt, allein schon aus Gründen erforderlicher Testgüte. Insofern kann die Studie auch als Aufforderung zur Entwicklung entsprechender Verfahren gelesen werden.
Die Frage einer zielgruppenspezifischen Sprachdiagnostik ist eng verknüpft mit Fragen der angemessenen beruflichen Qualifikation der in diesem Feld Tätigen. Hier mahnt die Studie die längst überfällige pädagogische (Weiter-)Qualifizierung derjenigen Berufsgruppen an, die mit gehandicapten Kindern und Familien mit Migrationshintergrund arbeiten. Es wird deutlich, dass sie ohne entsprechendes Expertenwissen immer der latenten Gefahr ausgesetzt sind, den Sprachentwicklungsstand ungenau oder gar fehlerhaft zu diagnostizieren, was sich entscheidend auf die Therapieerfolge auswirken kann.
Ich wünsche der vorliegenden Publikation viele interessierte Leserinnen und Leser, insbesondere aus dem Kreis der Ausbilder/innen und bildungspolitischen Entscheidungsträger/innen und hoffe, dass auch sie nach der Lektüre zu der Einsicht kommen, dass dringender Handlungsbedarf in diesen Themenfeldern besteht, soll der Anspruch, inklusive Bildung für alle Bürgerinnen und Bürger zu ermöglichen, aufrichtig gemeint sein. Wie die einzelnen Realisierungsschritte aussehen können, zeigt die vorliegende Publikation eindrucksvoll auf.
Havva Engin
Heidelberg, im Dezember 2012
Autoren
Diller Gottfried, Professor für Hörgeschädigtenpädagogik mit den Schwerpunkten Didaktik und Pädagogische Audiologie an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, Leiter des CIC - Rhein Main Friedberg. Forschungsschwerpunkte: Hörentwicklung aus pädagogischer Sicht, CI-Rehabilitation, Schriftspracherwerb von Schülern mit Hörschädigung, Deutsch als Zweitsprache in der Hörgeschädigtenpädagogik und Hörgerichtete didaktische Aspekte im Unterricht.
Anke Martsch, Hörgeschädigtenpädagogin, Dipl. Sonderpädagogin; 2006 bis 2011 Mitarbeiterin im CIC Rhein-Main mit dem Schwerpunkt Forschung, Weiterbildung, Diagnostik (Sprach- und Entwicklungsdiagnostik). Seit 2011 Lehrauftragstätigkeit im Fach Hörgeschädigtenpädagogik an verschiedenen Bildungsinstitutionen.
Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Potentiale von Bilderbüchern für Kinder und Schüler mit Hörschädigung, Didaktische Prinzipien von Deutsch als Zweitsprache in der Hörgeschädigtenpädagogik und Hörgerichtete didaktische Aspekte im Unterricht.