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Hrsg. Manfred Hintermair
1. Nachdruck der unveränderten Auflage 2012, 224 Seiten, broschiert
Beschreibung
Autoren:
Katrin Bentele, Johannes Hennies, Manfred Hintermair, Emil Kammerer, Harry Knoors, Marc Marschark, Hans Christoph Strauß, Cornelia Tsirigotis und Helga Voit.
ISBN 978-3-941146-27-3
Beschreibung
Das vorliegende Buch befasst sich mit der Frage, welche Bedeutung das derzeit die wissenschaftlichen und praktischen Diskurse dominierende Thema der Inklusion für die Diskussionen und Entscheidungsprozesse vor allem im Bereich der Bildung gehörloser und schwerhöriger Kinder hat, aber auch für das Leben der Betroffenen jenseits von Fragen der Bildung und Erziehung. Es geht dabei im Kern darum, welche Chancen und Risiken insbesondere für die davon betroffenen gehörlosen und schwerhörigen Menschen enthalten sind und was sich daraus für Herausforderungen für die Personen ergeben, die diese Menschen in verschiedenen Phasen ihres Lebens begleiten (Eltern, Frühförderung, Schule, berufliche Bildung, Arbeitskollegen etc.) wie auch insgesamt für die Gesellschaft.
Die Beiträge in diesem Buch stellen kritische Impulse aus verschiedenen Perspektiven bereit, um die Inklusionsdiskussion im Bereich der Entwicklung, Förderung und Lebensgestaltung von gehörlosen und schwerhörigen Menschen zu bereichern. Es sind „Diskurse über das Dazugehören und Ausgeschlossensein“. Die Lebenssituation von schwerhörigen und gehörlosen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen bietet hierfür mit ihrem zentralen Merkmal der „Kommunikationsbehinderung“ (und einer damit oft verknüpften Demarkationslinie bzgl. sozialer und gesellschaftlicher Teilhabe) ein reichhaltiges Diskussionsfeld.
Die Beiträge machen in vieler Hinsicht deutlich, vor welch großen Herausforderungen wir stehen, um echte soziale und gesellschaftliche Teilhabe gehörloser und schwerhöriger Menschen und damit umfängliche Inklusion zu ermöglichen.
Mit Beiträgen von Katrin Bentele, Johannes Hennies, Manfred Hintermair, Emil Kammerer, Harry Knoors, Marc Marschark, Hans Christoph Strauß, Cornelia Tsirigotis, Helga Voit.
Inhaltsverzeichnis
Manfred Hintermair
Let’s talk about inclusion
Katrin Bentele
Menschenrechte und Inklusion – Überlegungen zur Inklusion von Menschen mit einer Hörschädigung
Helga Voit
Inklusion von innen – Selbstreflexionen gehörloser und schwerhöriger Erwachsener und ihre Relevanz für die Pädagogik
Emil Kammerer
Berührungspunkte zwischen Inklusion und Medizinethik
Manfred Hintermair
Inklusion von gehörlosen und schwerhörigen Kindern und Jugendlichen – sozialwissenschaftliche und sozialisationspsychologische Betrachtungen
Johannes Hennies
Ist das Neugeborenen-Hörscreening der Ausgangspunkt lebenslanger Partizipation? Ethische Implikationen der frühen Diagnose von Hörschädigungen
Marc Marschark und Harry Knoors
Sprache, Kognition und Lernen – Herausforderung an die Inklusion gehörloser und schwerhöriger Kinder
Hans Christoph Strauß
Gehörlose und schwerhörige Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen – Inklusion oder Illusion?
Cornelia Tsirigotis
»All inclusive« heißt nicht »Entweder – Oder«, sondern »Sowohl als Auch« – Mit welchen professionellen Haltungen in Beratung und Schule gelingen Streifzüge ins Inklusions(träume)land?
Autorenverzeichnis
Rezension
»Schon wieder ein Buch zur Inklusion – damit beschäftigen wir uns doch intensiv und eigentlich schon immer«, werden viele behaupten. Vergleicht man jedoch die Internetmeldungen zum Thema »Inklusion« mit über inzwischen 2 Millionen Stichwörtern und vergleicht diese mit denen zu den Begriffen »Inklusion und Hörschädigung«, wird man feststellen, dass sich die Hörgeschädigtenpädagogik mit nur 0,8 % Anteil daran bisher scheinbar doch recht zögerlich diesem Thema zugewendet hat.
In 8 Beiträgen aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven und für unterschiedliche Handlungsfelder wird dieses Thema vor allem für den Bereich der Bildung gehörloser und schwerhöriger Kinder, aber auch für das Leben der Betroffenen jenseits von Fragen der Bildung und Erziehung behandelt.
Wer allerdings hier erwartet, rezeptartige Handreichungen zur konkreten Umsetzung inklusiver Lebensmodelle geliefert zu bekommen, wird diese nicht finden. Es geht im Kern darum, welche Chancen und Risiken insbesondere für die davon betroffenen gehörlosen Menschen in dieser Entwicklung enthalten sind. Die sozial-ethische Frage, inwieweit der gemeinsame Unterricht auch schon Inklusion darstellt, wird hier nicht diskutiert. Es geht um die Darstellung von Realisierungspraktiken auf dem Weg dorthin.
Die vorgelegten Beiträge stellen entsprechend den Versuch dar, kritische Impulse aus verschiedenen Perspektiven bereit zu stellen, um die Inklusionsdiskussion im Bereich der Entwicklung, Förderung und Lebensgestaltung von gehörlosen und schwerhörigen Menschen zu bereichern. Den Autoren ist es gelungen, ein Grundlagenwerk vorzulegen, was die breite Zielgruppe und die heterogene Schülerschaft mit ihren unterschiedlichen Bildungsansprüchen und individuellen Zugängen darstellt.
Ausgehend von Positionen der wissenschaftlichen Ethik und den Bedingungen unter denen Betroffene ihre Rechte auch tatsächlich wahrnehmen und realisieren können, werden auch Fragen der Bioethik diskutiert, mit dem Neugeborenen-Hörscreening sowie dem Cochlea-Implantat verknüpft.
Insbesondere auch die Einbeziehung Betroffener und deren Erfahrungen ist wichtig. Die immense Leistung des Individuums im Prozess der Inklusion, damit sie im sozialen Miteinander für sich auch ein befriedigendes Gleichgewicht erhalten, sind Reflektionen, die in der heutigen Forderung nach ausschließlicher Inklusion mit einer »Schule für alle« kaum Berücksichtigung erfahren. Die Frage wird gestellt, ob die psychischen Grundbedürfnisse Hörgeschädigter auch adäquat befriedigt werden und die soziale und gesellschaftliche Teilhabe ehrlicherweise auch wirklich am Individuum orientiert ist. Es wird ebenso der Frage nachgegangen, welche Handlungsnotwendigkeiten sich vor allem für die am Beratungsprozess beteiligten Fachleute ergeben, die nach früher Diagnosestellung eingebunden sind. Wird einer Selbstbestimmung der Eltern angemessen Rechnung getragen? Sind die von einseitig orientierten Beschulungsmodellen ausgehenden Bestrebungen im Sinne einer Beschulung für gehörlose und schwerhörige Schüler an allgemeinen Schulen auch Garanten für echte Teilhabe? In diesem Buch wird überzeugend nachgewiesen, dass nach aktuellem wissenschaftlichem Stand das Wissen darum bei weitem noch nicht ausreichend ist. Natürlich sind sich alle klar, dass soziale Inklusion ohne entsprechende Veränderungen in der Gesellschaft nicht möglich ist. Dies betrifft nicht nur hörgeschädigte Menschen. Aber werden diese Aspekte auch ausreichend in der aktuellen bildungspolitischen Diskussion berücksichtigt oder gehen dem andere Überlegungen und Absichten vor?
Wie sieht es in der Zeit nach der Schule aus? Erleben gehörlose und schwerhörige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Inklusion oder ist dies für sie eher eine versprochene Illusion?
Dieses Buch ist gerade deshalb in der momentanen Diskussion besonders wertvoll, weil es dort um »entweder-oder« geht, um eine »Schule für alle«, in deren Konzept die unterschiedlichen Bedürfnisse gehörloser und schwerhöriger Schüler wie selbstverständlich durch die Individualisierung des Unterrichtes erfüllt werden sollen. Auch können?
Die Autoren liefert keine Rezepte, keine Umsetzungsstrategien; es ist kein didaktische Lehrwerk, sondern Grundlagenliteratur für alle, die von Berufs wegen sich mit hörgeschädigten Kindern und Jugendlichen beschäftigen. Es liefert mannigfaltige Aspekte für Studenten, Hochschuldozenten, erfahrene Hörgeschädigtenpädagogen in gleichem Maße, wie ebenso für die Vertreter der Medizin, die nicht nur diagnostizieren und operieren, sondern den zunächst unerfahrenen Eltern meist auch die so prägende und wichtige Erstberatung liefern.
Inklusion bedeutet für die Autoren, dass unterschiedliche Menschen auch unterschiedliche Wege zur Teilhabe an der Gesellschaft benötigen. Die Integration hörgeschädigter Kinder und Jugendlicher in Regelsysteme stellt nach Außen scheinbare Integration dar, birgt für sie in der Praxis jedoch tatsächlich die Gefahr einer vorgetäuschten Integration, ist eigentlich tatsächlich Segregation in der Integration.
Ausführlich widmet man sich dem Thema Ethik, Inklusion und Bildung von Menschen mit einer Hörschädigung. Wichtige Fragen für alle, die mit Diagnose und Beratung beschäftigt sind. Werden Familien hier beeinflusst? Welche ethischen Implikationen entstehen mit der frühen Diagnose von Hörschädigungen? Die Autoren sehen neue Herausforderungen, auf die man noch nicht vorbereitet ist, Entscheidungen über den Förderweg, die Art der medizinisch-technischen Hörhilfen. Dies hat nachhaltige Auswirkungen auf das spätere Leben. Mediziner, Pädagogen, Frühförderer und Therapeuten werden mit der Frage konfrontiert, welchen Rat und welche Informationen sie den Eltern zur Verfügung stellen sollen und wollen. Welche ethischen Anforderungen entstehen im Zusammenhang mit der frühen Diagnose, der medizinisch-technischen Versorgung und der Frühpädagogik? Diese müssen auch den menschenrechtlichen Anforderungen genügen und den lebenslangen Anspruch auf Partizipation berücksichtigen.
Wesentliches erreicht dieses Buch, nämlich eine kritische Haltung zur gegenwärtigen Inklusionsdiskussion im Allgemeinen im Hinblick auf die Hörgeschädigtenpädagogik. Dies heißt für die Autoren nicht, dafür oder dagegen zu sein. Sie plädieren für eine differenzierte Sichtweise gegenüber der heterogenen Zielgruppe, deren Bedürfnisse nicht durch einseitige und ausschließliche Bildungsangebote erfüllt werden können. Solange die Veränderungsbereitschaft in den allgemeinen Schulen nicht besteht, wird sich die inklusive Schule nicht etablieren. Es gilt zu verhindern, dass man unter den politischen Vorgaben nur eine »Inklusion light« bekommt, die später nicht mehr fortgeführt wird. Inklusion als Versprechen einer großen Freiheit darf nicht dazu führen, dass Betroffene aus besonderen Schutz- und Ausgrenzungsräumen in eine Welt bestehender und teilweise verschärfter Ausgrenzung geraten. Die Autoren belegen anhand aktueller Beispiele, dass die Veränderungsbereitschaft in den allgemeinen Schulen an Grenzen der Solidarität und Bereitschaft für Veränderungen stößt. Der Abbau vorhandener behinderungsspezifischer und professioneller Dienstleistungen darf deshalb nicht dazu führen, dass die Konsequenzen für die Betroffenen nicht mitbedacht werden: Der Inhalt der Verpackung entscheidet, nicht der Aufkleber. Es muss verhindert werden, dass Inklusion auch Exklusion bedeutet, dass auch Zwischenlösungen akzeptiert werden. Dies schließt natürlich Kritik an bestehenden Institutionen mit ein und verlangt, dass Teilhabe differenziert gestaltet wird und Entwicklungen sich am einzelnen Kind orientieren.
Manfred Hintermair und Autoren liefern einen wesentlichen Beitrag zur Objektivierung der plakativen Integrationsdiskussion unter Berücksichtigung einer differenzierten Sichtweise von Betroffenen. Gerade dies macht dieses Buch so interessant und regt zum Nachdenken an. Alle betroffenen und beteiligten Berufsgruppen stehen vor neuen, besonderen Herausforderungen.
Der Herausgeber will selbstverständlich eine Diskussion anregen, damit inklusive Bildung zukünftig auch sicherstellt, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit einer Hörschädigung gleichermaßen an allen Alltagsaktivitäten in der Gesellschaft vollständig teilhaben können. Physisches Zusammensein ist natürlich keine Garantie für gelingende soziale Beziehungen. Alle stehen vor einer gewaltigen Aufgabe, um den Prozess der Inklusion im Sinne einer umfassenden kommunikativen, sozialen und gesellschaftlichen Teilhabe erfolgreich zu gestalten.
Die Einbeziehung aktueller Veröffentlichungen aus dem Jahr 2012 macht dieses Buch insbesondere für Wissenschaftler und Studenten wertvoll. Darüber hinaus aber sollte es mehr Abiturienten motivieren, sich durch das Studium der Hörgeschädigtenpädagogik den vielfältigen Herausforderungen zukünftiger Bildungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche mit Hörschädigung mit Engagement und Offenheit zu widmen. Dies ist in der momentanen Zeit besonders wichtig, gerade weil wir wissen, dass die große Gefahr eines Abbaus behinderungsspezifischer professioneller Dienstleistungen stattfindet, die Konsequenzen für die betroffenen Menschen nicht oder zu wenig mit bedacht werden. Ein bisschen »Hörschädigtenförderung« kann doch jeder zum Inklusionshelfer Ausgebildete leisten.
Warum sollte das Buch auch von Bildungspolitikern gelesen werden? Weil es durchgängig deutlich macht, dass ein »Universalansatz« für die Bildung von Kindern mit Hörschädigung unangemessen ist, es vielmehr einer Palette alternativer Bildungsoptionen bedarf, um den großen individuellen Differenzen zwischen gehörlosen und schwerhörigen Kindern gerecht zu werden. Und der Trend, hörgeschädigte Schüler ausschließlich an Regelschulen zu unterrichten, nicht unbedingt die beste Option für den schulischen Erfolg aller ist, und dies im Gegensatz zur weit verbreiteten Annahme auf Finanz- und Verwaltungsebene nicht immer die billigste oder aus einem soziokulturellen Blickwinkel gesehen, die am besten geeignete Hilfe darstellt.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Autoren fordern an keiner Stelle, dass eine Beschulung an einer Hörgeschädigtenschule in jedem Fall die bessere Alternative ist, obwohl dieser Eindruck entstehen könnte. Nein, sie fordern, diese weiterzuentwickeln zu einen Kompetenzzentrum mit Prozessverantwortung für die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Hörbeeinträchtigungen an allgemeinen Schulen und an besonderen Förderorten gleichermaßen. Ihr sollte zukünftig eine erweiterte, andere Bedeutung zukommen.
Aber wird dies überhaupt noch umsetzbar sein? Gehen bisher bewährte und hohe fachliche Standards durch Studium und Ausbildung nicht bereits jetzt schon verloren? Die Studierendenzahlen gehen zurück, Lehrstühle werden abgebaut zugunsten allgemeiner inklusiver Ausrichtungen oder sie werden wegen des Trends zur »Schule für alle« gänzlich in andere Hochschulbereiche verschoben.
Dieses Buch macht in vieler Hinsicht deutlich, vor welchen großen Herausforderungen alle diejenigen stehen, die sich um echte soziale und gesellschaftliche Teilhabe gehörloser und schwerhöriger Menschen bemühen. »Inklusion und Hörschädigung« muss Grundlagenliteratur sein; nicht nur für Studenten, nein gerade bei solchen, die jetzt aktiv in den unterschiedlichsten Aufgabenfeldern mit Kindern und Jugendlichen mit Hörschädigung eingebunden sind. Man wird nicht nur zum Nachdenken angeregt; nein, man erkennt als Leser die große Gefahr, die sich in der allgemein geführten Inklusionsdiskussion für Hörgeschädigte in den Schulen auftut.
Der Autor dieser Zeilen, selbst seit vielen Jahren in die praktische Umsetzung der Integrations- und Inklusionsdiskussionen um hörgeschädigte Schülerinnen und Schüler eingebunden, hat dieses Buch nicht »quer gelesen«, sondern sich immer intensiver mit den einzelnen Beiträgen beschäftigt. Das einmalige Durchlesen reicht nicht aus. Dafür bietet es zu viele Informationen, zu viele Anregungen und Aspekte, stellt zu viele Fragen, über die man nachdenken und diskutieren muss. Die Aufgabe ist gigantisch: Bestehende Strukturen qualitativ zu halten, darüber hinaus jedoch neue Modelle gründlich und reflektiert zu erproben, zu evaluieren, ohne aber die bewährten hohen fachlichen Standards aufzugeben, um sich auf den Weg zu begeben, die Vision von Inklusion über Schule und Gesellschaft in naher oder fernerer Zukunft zu realisieren.
Hartmut Jacobs